Ich kann es selbst kaum glauben, aber genauso hat er ausgesehen in meinem
Traum. Klein, blondschopfig, blaue, selbst genähte Jeans mit Gummizug
und ein helles, baumwollenes Sweat-Shirt darüber. Haargenau so hat ihn
mir dieser Traum vor einer knappen Woche angekündigt, mir sogar seinen
Namen verraten: Stephan.
Er bemerkt keinen meiner atemlos interessierten Blicke. Ich beobachte
ihn durch die verspiegelte Scheibe des Nachbarraumes. Das, was er sagt,
höre ich über den Lautsprecher eines Fernsehers. Sein helles Engels-Stimmchen
klingelt mir direkt ins Gemüt. Ich warte bis er sich endlich umdreht,
bin neugierig auf die Vorderansicht. Und mein Herz wird weich wie Butter,
als es endlich geschieht.
Tellergroße, stahlblaue Augen. Ein Meer von Verunsicherung darin. Süßes
Stubsnäschen, ein kleines Bäuchlein über dem Hosenbund... - Vierjähriges
Kindchenschema eben. Ich bin getroffen! Peng! Kleine Schauer fließen
meinen Rücken entlang. Gott, der Arme, denke ich, so klein, und ein
so mieser Start ins Leben. Ich weiß, dass es die vor ihm geborenen Geschwister
heute nicht mehr gibt ...
Zu sagen: Den will ich, der muss es sein, ist nun nur noch eine Frage
des richtigen Momentes. Denn diese Entscheidung bedarf der Zweigleisigkeit,
kann keine Einbahnstraße bleiben. Sie braucht Wachstum auf beiden Seiten.
Bei ihm und bei mir. Wie unschwer zu erraten ist, spreche ich von der
ersten Begegnung mit meinem Pflegesohn.
Treffen im Tierpark, zusammen mit dem Heimpsychologen. Vorsichtiges
Abtasten von Angesicht zu Angesicht. Gegenseitig. Gerechter als beim
ersten Mal.
Wir mögen uns auf Anhieb. Meinem Mann ergeht es ähnlich. Erste Besuche
dann. Stephan gefällt, wie wir leben. Der Bauernhof, die Tiere, das
weite Land ... Und wir bemühen uns nach Kräften. Wollen uns von ihm
leiten, uns von ihm an die Hand nehmen lassen. Wollen ihm die Möglichkeit
geben, seinen Gefühlen nachzuspüren, eigene Entscheidungen zu fällen.
Räumen "sein" Zimmer nach seinen Wünschen um. Kriechen mit ihm über
den Boden und lassen ihn reiten auf uns, "erschießen" mit ihm zusammen
jeden, der ihm bedrohlich geworden ist, verarzten seine fiktiven Wunden,
füttern ihn, rennen hinter ihm her, wenn er vor uns wegläuft, um sich
lachend wieder einfangen zu lassen. Spielen mit ihm Abschnitte seines
Lebens durch...
Dann ist es so weit. Er will bei uns bleiben. Nach einer kurzen Weile
der angepassten Geflissenheit jedoch Schwierigkeiten. Ich zweifle an
meiner pädagogischen Professionalität, meiner elterlichen Kompetenz.
Er würgt mich, tritt mich, will wieder weg. Ich laufe ständig den Wirtschaftsweg
entlang hinter ihm her. Manchmal auf Socken, weil ich meine Schuhe in
der Eile nicht finde - so schnell ist er aus dem Gartentörchen verschwunden.
Hole ihn immer wieder ein. Versichere ihm, dass ich ihn gern habe, sehr
traurig wäre ohne ihn.
"Du haust mich immer! Ich will wieder ins Heim!", beschwert er sich.
- Dabei habe ich ihn noch nie geschlagen.
"Du hast mich auch gehauen, als ich die Glastür kaputtgemacht habe...!"
- In unserem Haus gibt es keine Glastür, gab es nie ...
Seine inneren Bilder verschmelzen mit der Realität, verwischen
sie. Er verwechselt die aktuelle Situation mit denen davor. Übertragung,
nennt man das.
"Ich bin ein Baum", sagt er eines Morgens zu mir und wickelt sich die
Bettdecke um die Füße. "Ich bin ein Baum, und du musst mich hier ausgraben
und in deinen Garten einpflanzen, ja?"
Monatelang spielen wir das. Der Entwicklungsstand unserer Beziehung
liegt vor mir wie ein offenes Buch. Wir machen dabei alle Phasen durch.
Zuerst fällt er ständig um. Dann darf ich den Arm in die Höhe strecken
und seine Stütze sein - gegen den Sturm. ("Kleine Bäume brauchen einen
Stock, der sie hält ...") Schließlich treiben seine Zweige Blüten, bringen
Früchte. Er schenkt sie mir... Bin von der Symbolhaftigkeit seines
Spieles fasziniert.
Dann plötzlich bricht alles ab. Das Thema scheint abgehakt.
Jetzt aber muss ich eines unserer Schafe sein. Muss ihn als mein Lamm
gebären. Immer und immer wieder. Muss das Böckchen "Stephan"
nennen und ihm sagen, dass ich es beschützen werde gegen jeden Wolf.
Bin schließlich die Kuh unseres Nachbarbauern und quetsche unter der
Bettdecke einen kleinen Bullen aus "mir" heraus, der natürlich auch
"Stephan" heißt und sich geborgen fühlen will. Endlich, nach
wiederum vielen Wochen darf ich "ich", die Ulrike, sein und
einen kleinen Jungen namens "Stephan" zur Welt bringen.
Spielabbruch. Noch ein Thema abgehakt.
Wir spielen Maus und Elefant ... Zartes Streicheln ist Stephan ein Greuel.
Unvertraut, irgendwie verdächtig, bedrohlich vielleicht auch. Ich gewöhne
ihn langsam an diese Form von Berührung, füttere seine Seele damit an.
Aber das zarte Huschen der Maus immer nur ganz kurz, dann schnell wieder
der kräftig aufstapfende Elefant. Und dabei möchte die Maus doch so
gern sein Freund sein. Aber er hat Angst vor ihr, dieser blöde Elefant
...! Stephans Haut schein fast verhungert bisher. Doch ich dringe vor
zu ihr. Bald darf nur noch die Maus ...
Nächstes Thema abgehakt.
Jetzt sagt er "Mami" zu mir, und ich nenne ihn "mein Hase". Und wir
sind verbunden mit einer Schweißnaht, die schon so manche Belastung
ausgehalten hat. Nun schon über elf Jahre lang. Die Pubertät schafft
neue Probleme, doch die Basis ist gelegt. Am Anfang. Dort, wo sie hingehört.
Und bei der Suche nach seinen Wurzeln werde ich ihm helfen. Wir sind
gerade dabei...